"Fugue in Void" von Moshe Linke. Die Bühne des Traumes.


Wie die Träume beginnen, weiß keiner. Man erinnert sich an das Weiter-Erzählen der zerfließenden Realität. Man ist auch dessen bewusst, was kurz vor dem Aufwachen geschehen war. Doch wie man in den Traum hineinkatapultiert wurde - daran kann sich kaum jemand erinnern.

Genau so auch in den Visionen von Moshe Linke, einem aus Hamburg stammenden Spielentwickler. Spiel?.. Mehr als das: audiovisuelle Erfahrungen, Grenzgänge zwischen der soliden Realität der digitalen Materie und der fragilen Vergänglichkeit unserer Welt. Die Visionen sind architektonisch geprägt - mit Tendenz in Richtung Brutalismus. Riesige Bauten, wie aus Beton gegossen, Licht- und Schatten-Spiel in leeren Gemächern. Und doch plötzliche Überraschungen, völlig neue Perspektiven. Am besten mit Kopfhörern genießbar - Immersion mit allen Sinnen. Keine Zombies, keine Monster, keine Speicherfunktion: der Besucher muss sich Zeit nehmen und alles am Stück durchleben. Und dann kehrt man zwangsläufig wieder und wieder zurück. Man wird von dieser auratischen Welt gefangen genommen. Man wird süchtig. Man erlebt ständige Nostalgie, wenn man mal nicht dort ist.


Fugue in Void heißt die neuste Erfahrung, die nach der 6-monatigen Entwicklung nun seit dieser Woche zur Verfügung steht. Eine sehr persönliche Geschichte. "This is the story of my mind" steht im Vorspann. Und dann: "This is my mind".

Darauf folgt eine lange Kamerafahrt. Ein Tunnelflug. Wie vor der Geburt. Oder nach dem Tod. Man sitzt zunächst als ein passiver Zuschauer da und rätselt.


Die Atmosphäre saugt einen langsam und gleichzeitig mit Lichtgeschwindigkeit ein, und erinnert an die Atombomben-Sequenz aus der dritten Staffel von "Twin Peaks" - ein audiovisueller meditativ-beunruhigende Kameraflug.

"TWIN PEAKS 2017 - The atomic bomb (July 16, 1945)

Nach mehreren enigmatischen Sequenzen und Visionen landet man irgendwo im Nirgendwo.


Fast jede Installation von Moshe Linke beginnt mit einer Art Hanamichi, Blumenweg (花道) - eine aus dem Kabuki-Theater stammende Verbindung, Brücke zwischen dem Publikum und der Bühne.

Hanamichi im Japanischen Nationaltheater, Tokyo (Quelle)
Der russische Theater-Koryphäe Vsevolod Mejerhold übernahm das Prinzip von Hanamichi und brachte es nach Europa. Nach seiner Theatertheorie waren die Zuschauer die "vierte schöpferische Instanz" eines Theaterstückes, nach dem Autor, Regisseur und Schauspieler.

Vsevolod Mejerhold (auch: Meyerhold), (Source
Die Schauspieler seines Theaters traten auf diesem Blumen-Wege von der Bühne direkt in das Publikum hinein und interagierten mit Zuschauern. Bei Moshe Linke verlässt man den Theatersessel und begibt sich in die Dekorationen des Unterbewussten. Die vierte Wand ist weg - auch wenn man sich in vier Wänden befindet, die auch von "NaissanceE" (Limasse Five) sichtbar beeinflusst wurden.

Nach dem Prolog landet man auf einem "Blumenweg" inmitten der schwarzen Wellen, unter dem schwarzen Himmel.



Man denkt sofort an das Purpurne Meer aus der dritten Staffel von Twin Peaks:

Purple Sea from: Twin Peaks, Season 3 (Source)
Moshe Linke bestätigt den Einfluss von David Lynch:

Was danach passiert, lässt sich nicht in Worte fassen. Jetzt liegt es an Ihnen. Jetzt sind Sie in Bewegung, jetzt betreten Sie eine wunderliche Welt der kalten brutalistischen Betonbauten, die über atmenden Kieme verfügen, die leben, die viele Geheimnisse verbergen. Die sterilen Interieurs sind mit Venen-artigen Röhren versehen.

  
Das anorganisch-organisch Erhabene beraubt Ihnen den Atem. Schattenlicht oszilliert zwischen Raum und Zeit. Und diese reiche Klangkulisse - mal hallen Ihre Schritte, mal knirschen Ihre Füße im Sand. Sie hören entfernte Musik, Halbstimmen (Tiere? Menschen? Maschinen?), sphärische Klänge.


Dann - urplötzlich - kommen Visionen. Sie werden wieder erstarrt, wie in einem Traum. Sie beobachten, wie die Öffnung zum Himmel langsam mit Gittern bewächst - kein Entkommen, nur etwas Bewegungsfreiheit (mit der Maus hin und her). Sie sind gefesselt - im direkten und übertragenen Sinne gleichzeitig. Kontrollverlust in seiner grausig-wunderschönen Art.


Und dann - plötzlich wieder frei. Vor dem Ausgang in das Weite. Und jemand - kaum erkennbar, aus Punkten bestehend - wartet geduldig auf Sie.


Diese ständig wechselnde Welt, irgendwo zwischen DeChirico und M.C. Escher, zwischen Jorge Luis Borges, David Lynch und William Gibson - und sehr Moshe Linke.

Und am Ende erkennt man alles. Man versteht das Persönliche dieser Erfahrung. Man erkennt, dass es kein Zuschauersessel war, den man verlassen hatte. Empfehlenswert ist dafür, die anderen Projekte von Moshe Linke zu besuchen. Dann werden Sie vieles begreifen.

Und nachdem der Abspann vorbei ist, kann man nichts anders machen als: neustarten.


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